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warum jeder Obdachlose eine eigene Wohnung haben sollte


"Von allen guten Geistern verlassen", "realitätsfremd", "naiv oder dumm" – die Leser des Berliner Tagesspiegel brauchten nicht lange, um sich zu dieser Meldung vom Mittwoch eine Meinung zu bilden: "Jeder Obdachlose in Berlin soll eine feste Unterkunft bekommen", hatte die Zeitung getitelt. Das sei das Ergebnis einer Strategiekonferenz zur Wohnungslosigkeit unter Leitung der linken Sozialsenatorin Elke Breitenbach.

Mittlerweile ist klar, dass es sich dabei eher um ein langfristiges Ziel als um einen konkreten Beschluss der Regierung handelt. "Natürlich ist das ein Ziel, das wir erreichen wollen", erklärt eine Sprecherin des Sozialsenats VICE auf Nachfrage. "Aber das braucht Zeit." Soll heißen: Arbeitsgruppen besprechen das Vorhaben und präsentieren Ergebnisse dann erst bei der nächsten Konferenz im September. Was erstmal nicht passieren wird: dass alle Obdachlosen in Berlin von heute auf morgen von der Straße geholt und in eigene Wohnungen gesteckt werden.

Aber warum eigentlich nicht?

Deutschland braucht dringend neue Ideen im Kampf gegen eine Obdachlosigkeit, die seit Jahren dramatisch zunimmt. Bundesweit, schätzt zum Beispiel die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), gab es 2016 um die 52.000 Obdachlose – das sind 13.000 mehr als noch zwei Jahre zuvor. Besonders extrem ist das Problem in Berlin: 2016 musste die Stadt 30.000 Menschen in Not- und Gemeinschaftsunterkünften unterbringen – doppelt so viele wie im Vorjahr. Wie viele Menschen dazu noch unter freiem Himmel schlafen, weiß niemand.

Diesen Menschen Wohnungen zu geben, könnte genau die richtige Lösung sein, glauben Experten – für die Betroffenen, aber auch für die Steuerzahler. "Das Beste, was man für Obdachlose machen kann, ist, ihnen eine Wohnung zu geben", sagt Harald Ansen, Experte für Wohnungslosigkeit an der HAW Hamburg. "Das belegen auch Forschungen aus den USA und Finnland, wo das zuerst ausprobiert wurde."

Das Konzept heißt "Housing First" und ist denkbar einfach: Statt Obdachlosen wie bisher medizinische und psychologische Betreuung auf der Straße und Notunterkünfte mit oft strengen Regeln anzubieten, bekommt jeder Betroffene erstmal eine Wohnung – ohne Bedingungen. Das macht es dann auch viel einfacher – und günstiger –, den Menschen gezielt bei ihren anderen Problemen zu helfen. "Es hat sich durchgängig bewährt, Betroffenen diese Chance zu geben", sagt Ansen. "Wohnungslosenhilfe kann nicht kompensieren, was eine Wohnung an Privatsphäre, Schutz und sozialen Entwicklungsmöglichkeiten liefert."

Nur: Wo sollen diese Wohnungen herkommen? Gerade in Berlin herrscht akute Wohnungsnot. Bereits jetzt fehlen 77.000 Wohnungen, bis zum Jahr 2030 braucht die Stadt insgesamt 194.000 neue Wohnungen, hat die Welt ausgerechnet: "eine ganze Großstadt". Bei der Strategiekonferenz wurde deshalb auch darüber nachgedacht, übergangsweise noch mehr "Modulare Unterkünfte für Flüchtlinge" und "Tempohomes" aufzustellen – beides Umschreibungen für Containersiedlungen.

Aber auch das wird nicht reichen. "Alleine kann Berlin das Problem nicht lösen", ist sich Thomas Specht von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sicher. Auch die BAGW ist überzeugt von dem "Housing First"-Konzept – "aus vollem Herzen", wie Specht sagt. "Es ist nur schwer, das zu realisieren." Damit das funktioniert, sagt er, müssen mehrere Sachen zusammenkommen: Erstens muss der Bund Kommunen wie Berlin noch viel stärker unterstützen. "Von den 40 Milliarden Überschuss, die der Bund in den nächsten vier Jahren haben wird, müssen die größeren Metropolen wie Berlin auch einen größeren Teil abkriegen", sagt Specht.

Mehr Geld allein reiche aber auch nicht, sagt Specht: Die Stadt müsse viel mehr in sozialen Wohnungsbau investieren. Mindestens genauso wichtig sei aber auch ein funktionierendes Präventionssystem, das Menschen daran hindert, überhaupt obdachlos zu werden – indem die Stadt Fachstellen einrichtet, die sich nur darum kümmern, mit Vermietern zu verhandeln oder zur Not die Miete zu bezahlen. "Das alleine würde das Nachwachsen der Obdachlosigkeit um mindestens 30 bis 40 Prozent senken", so Specht.

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Ein weiterer Grund, warum Wohnungen für Obdachlose nicht nur eine "Zielvorgabe", sondern Methode werden sollten: Ein Wohnungsprogramm ist billiger als die traditionelle Wohnungslosenhilfe, die das Problem eher verwaltet als löst. Zwar gibt es noch keine flächendeckenden Studien dazu in Deutschland, aber in Ländern wie Großbritannien oder Finnland hat sich die Methode als deutlich kosteneffizienter herausgestellt. "In Hamburg beispielsweise gibt man für die Wohnungslosenhilfe pro Jahr in der Summe etwa 50 Millionen Euro aus", sagt Harald Ansen. "Diese Gelder flössen dann zum Teil in die Wohnungsunterstützung und in ambulante Hilfe, die ja auch viel billiger als die stationäre ist."

Unterstützung bekommt er vom Deutschen Ärzteblatt. Das berichtete schon 2009, dass das Programm die Kosten für die Behandlung von Alkoholismus in den USA drastisch gesenkt hat. "Selbst wenn man die Ausgaben für die Unterkunft miteinbezieht, halbierten sich die Gesamtkosten", schrieb das Blatt.

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Eine der größten Sorgen der Tagesspiegel-Leser ist die Signalwirkung. Würde eine solche Maßnahme nicht dafür sorgen, dass sich wohnungslose Menschen aus ganz Europa auf den Weg in die deutsche Hauptstadt machen, um hier eine Wohnung gestellt zu bekommen?

Ganz unberechtigt ist die Sorge nicht: Schon jetzt, schätzt die BAGW, stammt die Hälfte aller Obdachlosen in deutschen Großstädten aus Osteuropa. Das heißt aber nicht, dass alle Anspruch auf eine solche Wohnung hätten, erklärt Thomas Specht. "Ein wohnungsloser Osteuropäer, der hier herkommt, hat Anspruch auf eine Notunterkunft, aber keinen Anspruch auf eine Wohnung. Es sei denn, er arbeitet." Das bestätigt auch die Sprecherin des Sozialsenats Regina Kneiding. "Wenn jemand aus einem EU-Land kommt, hat er in der Kältehilfe ohnehin einen Anspruch, einen Platz zu kriegen. Hier darf keiner auf der Straße erfrieren." Eine Notunterkunft ist aber eben nicht das Gleiche wie eine eigene Wohnung.

Auch der Wohnungslosigkeits-Experte Harald Ansen glaubt nicht an eine solche "Magnetwirkung": "Dafür gibt es aber keine empirischen Belege. Die Risiken halte ich für gering", sagt er. Aber noch wichtiger ist ihm: Selbst wenn es Leute aus dem Ausland anlocken würde, wäre das noch kein Grund, "Housing First" nicht umzusetzen. Ganz einfach, weil es dringend gebraucht werde: "Die Verelendung der Menschen auf den Straßen ist eine Katastrophe", warnt Ansen. "Die Lebenserwartung ist geringer, die Krankheitsanfälligkeit ist erhöht – und die Gewaltverbrechen gegen Wohnungslose nehmen zu." Was in Berlin gerade besprochen wird, ist also keine Träumerei – sondern womöglich die einzige Lösung für die zunehmende Obdachlosigkeit in ganz Deutschland.

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Author: Michael Peterson

Last Updated: 1704071762

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Name: Michael Peterson

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